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Die Erfahrung der Zerbrechlichkeit unserer Lebensumwelt, der Natur, unserer Gesundheit, der sozialen Systeme der Zivilgemeinschaft und von vielem mehr können in uns Empfindungen der Enttäuschung und der Trauer auslösen. Demokratien werden brüchiger, autoritäre Systeme nehmen zu; Kriege, Katastrophen
und Menschenrechtsverletzungen häufen sich, zumindest in unserer Wahrnehmung. Das ist weit entfernt vom Optimismus, vom Glauben, dass die Menschheit sich weiterentwickle hin zu mehr Gerechtigkeit, Gleichheit, Vernunft und gegenseitiger Verantwortung, den viele von uns älteren Menschen früher hegten.
Die Aufbruchstimmung in den 1960er- und 70er-Jahren und der Fortschrittsglaube wurden abgelöst von Skepsis und Entmutigung bezüglich der Zukunft unseres Planeten.

In unserem eigenen Leben sind Ursachen für Trauer und Enttäuschung Verluste, die wir erleiden durch Tod, durch Trennung, durch Entfremdung, durch Sich-auseinander-leben. Wir können auch den Lebensmut verlieren, den Optimismus bezüglich der Entwicklung in unserem Umfeld und in der Welt. Dadurch entsteht Trauer. Damit verbunden ist Enttäuschung, Ent-Täuschung. Das bedeutet, dass eine Täuschung wegfällt, dass wir eine neue Einsicht entstehen lassen. Diese Täuschungen können uns selber betreffen, unser Bild von uns selbst. Bei der Ent-Täuschung können wir erkennen, dass wir nicht die Person sind, die wir zu sein glaubten. Es kann die Einsicht entstehen, dass wir Charakterzüge besitzen, die wir bisher sorgfältig verdrängt haben – die wir nicht wahrhaben wollten. Das können Schwächen sein, wirklich vorhandene oder eingebildete.

Die Ent-Täuschung kann andere Personen betreffen. Wir haben bisher gewisse Qualitäten an einer anderen Person wahrgenommen, wir haben einen bestimmten Menschen in ihm gesehen und entdecken nun, dass diese Person nicht so ist, wie wir glaubten. Das kann allmählich geschehen durch ein stückweises
Abbröckeln der alten Sicht, oder es kann plötzlich auftreten, zum Beispiel wenn eine bestimmte Handlung diese Person in einem völlig neuen Licht erscheinen lässt. Solche Ent-Täuschungen treten auch auf unserem Praxisweg auf. Ja, die Praxis ist darauf ausgerichtet, uns Ent-Täuschungen zu bereiten, denn wir wollen unsere Täuschungen, die wir oft als Geistestrübungen bezeichnen, abbauen, immer weiter, mit grosser Standhaftigkeit, bis wir sie vollständig wegfallen lassen
können.

Doch Ent-Täuschung ist mit Trauer verbunden, mit Schmerz. Wir haben unsere Täuschungen, die Geschichten, die wir uns über uns selber erzählen, die eingefleischten Gewohnheiten liebgewonnen. Wir haben uns damit eingerichtet, vielleicht haben sie uns Halt und Sicherheit geboten. Wenn sie uns
wegfallen, stehen wir wie entblösst da – nackt – ohne die Hülle unserer eigenen Erzählung, wer wir sind und wie unsere Bezugspersonen sind. Diese Nacktheit ist schmerzhaft, sie kann eine Verlorenheit hervorrufen, ein Ungeschützt-Sein.

Wie können wir damit umgehen?
Versuchen wir zunächst unsere Trauer, unsere Enttäuschung anzusehen. Sie ist da. Wenn wir wagen, sie anzusehen, können wir ihre Tiefe erkennen – ihre emotionale Färbung – ihren Erkenntnisaspekt. Schauen wir hin! Wie ist meine Trauer? Kann ich sie da sein lassen? Kann ich in sie hineinspüren? Bleiben wir
zunächst dabei. Nur dabei sein, nur da sein. Auch wenn wir nicht wissen, woher sie kommt und was sie bedeutet. Vielleicht brauchen wir in diesem Hinschauen Pausen, wenn die Macht der Trauer uns zu überwältigen droht. Vielleicht müssen wir uns zwischendurch mit voller Achtsamkeit einer alltäglichen oder
beruflichen Aufgabe widmen. Doch wir kehren zum Hinschauen zurück, immer und immer wieder. Und wir akzeptieren, dass diese neue Sichtweise, diese noch ungewohnte Erkenntnis, diese Veränderung in unserem Leben da ist. Wir stossen sie nicht weg, auch wenn sie noch so schmerzhaft ist.

Wir akzeptieren die neue Situation in unserem Empfinden, in den Gefühlen, in unserem Denken, in unserem ganzen Da-Sein. Durch dieses offene Hinsehen und Akzeptieren erwächst uns auch die Kraft, in diesen Veränderungen zu bestehen. Es die Kraft unserer Praxis, unserer Meditation, die wir bei jedem Sitzen in uns nähren. So können wir wachsen. Wir lernen, mit allem, was uns zustösst, umzugehen. In der Meditation hilft uns die Methode, auch in den Stürmen von Enttäuschung und Trauer in der Folge neuer Einsichten, standhaft zu bleiben. Zur Methode können wir immer zurückkehren. Wenn wir beim Atem oder
im Stillen Gewahrsein verweilen können, entsteht in uns die Kraft, allen diesen Turbulenzen standzuhalten.
Das wir auch Samadhi-Kraft genannt.

sommer rundbrief chan bern 2023

Wir sollten auch im Alltag Zeichen setzen. Vielleicht können wir unsere Trauer niederschreiben, möglicherweise sogar in einem Gedicht. Oder wir können sie singend oder mit Musik ausdrücken. Vielleicht widmen wir sie allen Lebewesen, die traurig sind. Das kann mit einer symbolischen Handlung verbunden sein – dem Aufstellen einer Kerze, dem Niederlegen einer Blume oder eines besonders schönen Steines.

Dann, nach verflossener Zeit – kürzer oder länger – lassen wir Trauer und Enttäuschung wegfallen. Wir lassen auch diese Empfindungen los, werden uns bewusst, dass auch diese Gefühle vergänglich sind, sich ändern können, aufhören können.

Wenn uns das gelingt – vielleicht anfänglich nur ansatzweise – dann können wir befreit zurückkehren zum Da-Sein im gegenwärtigen Moment. Wirklich ist nur, was jetzt gerade ist, so wie es ist. Ich gehe, ich arbeite, esse, betrachte eine Blume, empfinde, entspanne, ruhe, schlafe.

In einsamer Gegend
zwischen Hochgebirgsfelsen
Umkost vom flüsternden Windhauch
Erfreut sich die Wildnelke ihrer selbst.

Katsuki Sekida